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Kategorie: Verkehrsrecht

Haftung für Folgeschäden aus Verkehrsunfall

Verkehrsunfall, Schaden, HWS, Halswirbelsäule, Verletzung, Schadensersatz, Schleudertrauma, Haftung, Feststellung


BGH, Urteil vom 20.11.2001, Az. VI ZR 77/00

Leitsatz:

Entsteht nach zwei zeitlich einander folgenden selbständigen Unfällen ein Dauerschaden des Verletzten, haftet der Erstschädiger mangels abgrenzbarer Schadensteile grundsätzlich auch dann für den Dauerschaden, wenn die Folgen des Erstunfalls erst durch den Zweitunfall zum Dauerschaden verstärkt worden sind.            

Der Zweitschädiger haftet für den Dauerschaden mangels abgrenzbarer Schadensteile schon dann, wenn der Zweitunfall lediglich mitursächlich für den Dauerschaden ist.

Aus der Urteilsbegründung:
"(...) a) Ein Anspruch aus §§ 823, 847 BGB, 7, 18 StVG, 3 PflVersG gegen die Beklagten zu 1 und 2 setzt zunächst voraus, daß der Körper der Klägerin beim Unfall am 2. August 1987 verletzt worden ist. Das ist schon deshalb zu bejahen, weil die Klägerin nach den Feststellungen des Berufungsgerichts bei diesem ersten Unfall ein HWS-Schleudertrauma erlitten hat.

b) Ob die vom Berufungsgericht als bewiesen angesehenen rezidivierenden Blockierungen mit Dauerfolgen aus orthopädischer Sicht auf dieser Verletzung beruhen, ist eine Frage der haftungsausfüllenden Kausalität und daher nach § 287 Abs. 1 ZPO zu beurteilen. Das Berufungsgericht verkennt, daß dieser Ursachenzusammenhang nach seinen eigenen Feststellungen nicht in Zweifel gezogen werden kann. Die Beklagten zu 1 und 2 haften nicht nur dann, wenn die Folgen ausschließlich auf den Erstunfall zurückzuführen sind. Falls - was das Berufungsgericht nicht auszuschließen vermag - erst der zweite Unfall zu der Schwere der (jetzt noch verbliebenen) Verletzung geführt haben sollte, sind dennoch die Beklagten zu 1 und 2 hierfür mitverantwortlich. Die haftungsausfüllende Kausalität entfällt nicht schon dann, wenn ein weiteres Ereignis mitursächlich für den endgültigen Schaden geworden ist. Ausschlaggebend ist deshalb nicht, ob die Verletzung des ersten Unfalls ohne den zweiten Unfall (möglicherweise) vollständig hätte ausheilen können. Entscheidend ist vielmehr, ob die Verletzungsfolgen des

Erstunfalles im Zeitpunkt des zweiten Unfalles bereits ausgeheilt waren und deshalb der zweite Unfall allein zu den nunmehr vorhandenen Schäden geführt hat, oder ob sie noch nicht ausgeheilt waren. Das Berufungsgericht ist ersichtlich von letzterem ausgegangen, wenn es (dem orthopädischen Sachverständigen Prof. Dr. H. folgend) nicht ausschließen kann, daß die "Erstunfallfolge" ohne den zweiten Unfall vollständig hätte ausheilen können. Bei dieser Betrachtungsweise waren zum Zeitpunkt des zweiten Unfalls jedenfalls noch Folgen des ersten Ereignisses vorhanden, die nun (möglicherweise) verstärkt wurden und eine besondere Schwere erhielten. Die damit mindestens gegebene Mitursächlichkeit der beim ersten Unfall erlittenen Verletzungen für die heutigen dauerhaften Folgen genügt für eine Bejahung der Kausalität.

Die Feststellung des Sachverständigen Prof. Dr. H., der Zweitunfall habe die Verletzung des Erstunfalls möglicherweise "richtungsgebend verstärkt", auf die sich das Berufungsgericht wesentlich stützt, vermag die Kausalität des ersten Unfalls nicht in Frage zu stellen. Diese aus dem Sozialversicherungsrecht stammende Formulierung gibt für die Beurteilung der für die zivilrechtliche Haftung notwendigen Ursächlichkeit im naturwissenschaftlichen und logischen Sinn nichts her.

c) Es gibt auch keine Veranlassung, etwa am haftungsrechtlichen Zurechnungszusammenhang zu zweifeln. Dieser kann zwar in Ausnahmefällen unterbrochen sein, wenn sich bei wertender Betrachtung im Zweiteingriff nicht mehr das Schadensrisiko des Ersteingriffs verwirklicht hat, vielmehr dieses Risiko schon gänzlich abgeklungen war und deshalb zwischen beiden Eingriffen nur ein "äußerlicher", gleichsam "zufälliger" Zusammenhang besteht, so daß vom Erstschädiger billigerweise nicht verlangt werden kann, dem Geschädigten auch für die Folgen des Zweiteingriffs einstehen zu müssen. Davon kann jedoch keine Rede sein, wenn der erste Unfall noch eine Schadensanfälligkeit hinterlassen hat, auf die die zweite Verletzungshandlung trifft, mag auch erst letztere zu einer besonderen Schwere der Gesundheitsbeschädigung führen.

d) Schließlich bleibt die Gegenrüge der Beklagten zu 1 und 2 ohne Erfolg, mit der sie geltend machen, die Feststellungen des Berufungsgerichts zur (Mit-) Ursächlichkeit des HWS-Schleudertraumas für den noch vorhandenen Gesundheitsschaden seien nicht verfahrensfehlerfrei getroffen worden. Sie legen keine Umstände dar, nach denen das Berufungsgericht gehalten gewesen wäre, den Sachverständigen Prof. Dr. H. zur Erläuterung seiner schriftlichen Gutachten (§ 411 Abs. 3 ZPO) zu laden. Insbesondere ist nicht dargetan, daß dies zur Beseitigung von Zweifeln und Unklarheiten des Gutachtens geboten gewesen wäre. Die Revisionserwiderung setzt lediglich ihre eigene medizinische Würdigung an die Stelle der Wertungen des Sachverständigen und des Berufungsgerichts; sie zeigt nicht auf, daß nach den schriftlichen Gutachten weiterer Aufklärungsbedarf bestand, dem das Berufungsgericht hätte nachgehen müssen.

2. Auch die Begründung, mit der das Berufungsgericht eine Haftung der Beklagten zu 3 und 4 verneint hat, begegnet durchgreifenden Bedenken.

a) Richtig ist zwar, daß ein Anspruch gegen die Beklagten zu 3 und 4 nicht bestehen kann, falls der zweite Unfall keinen Einfluß auf den vom Sachverständigen festgestellten Körperschaden der Klägerin gehabt hat, was das Berufungsgericht nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme für möglich hält.

b) Andererseits sieht sich das Berufungsgericht an einer Verurteilung der Beklagten zu 3 und 4 (nur) deshalb gehindert, weil die Klägerin nicht nachgewiesen habe, daß die 20 % ige Erwerbsminderung auf einer "ausschließlich" dem Beklagten zu 3 "zurechenbaren Verursachung" beruhe. Es ist deshalb nicht ausgeschlossen, daß das Berufungsgericht auch hier - ebenso wie hinsichtlich der Beklagten zu 1 und 2 - verkannt hat, daß mangels abgrenzbarer Schadensteile jede Mitursächlichkeit zu einer Haftung für den ganzen Schaden ausreichen und zu einer gesamtschuldnerischen Haftung mit den Beklagten zu 1 und 2 nach § 840 Abs. 1 BGB führen würde. Unschädlich wäre es auch, wenn die Verletzungshandlung auf eine besondere Schadensanfälligkeit der Klägerin getroffen wäre. Im Rahmen des auch hier maßgeblichen § 287 ZPO ist keine sichere Gewißheit im Sinne einer vollen Überzeugung des Gerichts für eine Mitursächlichkeit der durch den zweiten Unfall erlittenen Verletzung der Klägerin für den heute noch vorliegenden Dauerschaden erforderlich. Eine Haftung der Beklagten zu 3 und 4 scheitert daher nicht zwingend, wenn - wie hier nach den Feststellungen des Berufungsgerichts - lediglich nicht auszuschließen ist, daß allein der erste Unfall die geklagten Folgen herbeigeführt hat. Das Berufungsgericht wird deshalb unter Berücksichtigung dieser Grundsätze erneut zu prüfen haben, ob es mit der nach § 287 Abs. 1 ZPO ausreichenden Wahrscheinlichkeit feststellen kann, daß die Verletzung der Klägerin beim zweiten Unfall zumindest mitursächlich für den festgestellten Dauerschaden war.

3. Erfolglos muß die Revision dagegen bleiben, soweit die Klägerin auch vom Beklagten zu 3 Ersatz ihres immateriellen Schadens begehrt. Die Klage ist insoweit schon nach ihrem eigenen Vorbringen unbegründet. Der Beklagte zu 3 wird nur als Halter des gegnerischen Fahrzeugs beim zweiten Unfall in Anspruch genommen. Er haftet damit allenfalls nach §§ 7, 11 StVG auf Ersatz materiellen Schadens. Die Zuerkennung eines Schmerzensgeldes kommt nach bislang geltendem Recht nicht in Betracht (§ 253 BGB). (...)"