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Kategorie: Schmerzensgeld

Feststellung eines groben Behandlungsfehlers eines Arztes

Entbindung, Narkose, Fehlbehandlung, Schaden, Schadensersatz, Schmerzensgeld, Behinderung, Sachverständige


BGH, Urteil vom 03.07.2001, Az. VI ZR 418/99

Leitsatz:

Der Tatrichter darf einen groben Behandlungsfehler nicht ohne ausreichende Grundlage in den medizinischen Darlegungen des Sachverständigen bejahen.

Tatbestand gekürzt:
Die 1962 geborene Klägerin verlangt Schadensersatz und Schmerzensgeld wegen der Folgen eines Narkosezwischenfalls. Sie unterzog sich am 8. August 1993 in dem von der Beklagten zu 3) betriebenen Krankenhaus in H. einer Kaiserschnittentbindung, die der ursprünglich mitbeklagte Gynäkologe Dr. K. unter Vollnarkose durchführte. Anästhesistin war die Beklagte zu 1). Sie versorgte die Klägerin zunächst mit Sauerstoff und leitete um 10. 10 Uhr die Intubation ein. Etwa zwei Minuten später hörte sie bei der Auskultation beider Lungenseiten gleichmäßige spastische Atemgeräusche. Um 10. 17 Uhr erfolgte die Entbindung. Die Erstbeklagte nahm eine kurze Untersuchung des Neugeborenen vor und stellte dessen Lebensfrische fest. Bei der im Anschluß an die Entbindung vorgenommenen Plazenta-Ablösung bemerkte Dr. K. eine Blauverfärbung des Blutes. Die Erstbeklagte wandte sich wieder der Klägerin zu und nahm um 10. 25 Uhr eine Neuintubation vor. Um 10. 28 Uhr alarmierte sie den Notdienst des Krankenhauses. Nach etwa zwei Minuten erschienen die Chefanästhesistin Dr. G und der Internist Dr. M. Letzterer stellte eine starke Zyanose fest. Die Pupillen der Klägerin waren geweitet und reagierten nicht mehr auf Licht. Ihr Kreislauf war zusammengebrochen. Die Herzfrequenz sank auf 25 Schläge ab. Dr. G. leitete Herzdruckmassagen ein, die von dem ebenfalls hinzugekommenen Oberarzt Dr. E. fortgesetzt wurden. Nachdem Dr. K. bemerkte, daß der Magen der Klägerin überbläht war, überprüfte Dr. G. die Tubuslage. Sie fand den Endotrachealkatheter im Rachenraum vor der Luftröhre liegend und schob den Tubus um 10. 30 Uhr in die Luftröhre. Nach weiterer Reanimierung stellte sich alsbald eine Besserung der Herz- und Kreislaufwerte ein.

Die Klägerin erlitt als Folge der vorübergehenden Sauerstoffunterversorgung eine hochgradige Großhirnschädigung, aus der sich ein apallisches Syndrom entwickelte. Sie ist nicht mehr ansprechbar. Ein irgendwie gearteter Kontakt mit ihr ist nicht möglich.

Aus der Urteilsbegründung:
"(...) 2. Ein grober Behandlungsfehler liegt nur dann vor, wenn der Arzt eindeutig gegen bewährte ärztliche Behandlungsregeln oder gesicherte medizinische Erkenntnisse verstoßen und einen Fehler begangen hat, der aus objektiver Sicht nicht mehr verständlich erscheint, weil er einem Arzt schlechterdings nicht unterlaufen darf. Die Beurteilung, ob diese Voraussetzungen erfüllt sind, obliegt zwar dem Tatrichter; dessen wertende Entscheidung muß aber auf ausreichenden tatsächlichen Feststellungen beruhen, die sich auf die medizinische Bewertung des Behandlungsgeschehens durch den Sachverständigen stützen und auf dieser Grundlage die juristische Gewichtung des ärztlichen Vorgehens als grob behandlungsfehlerhaft zu tragen vermögen. Es ist dem Tatrichter nicht gestattet, ohne entsprechende medizinische Darlegungen des Sachverständigen einen groben Behandlungsfehler aus eigener Wertung zu bejahen.

3. Die Revision beanstandet zu Recht, daß die Erwägungen des Berufungsgerichts diesen Grundsätzen nicht gerecht werden. Das Berufungsgericht stützt sich bei seiner Bewertung in erster Linie auf die Größe der abzuwendenden Gefahr und führt in diesem Zusammenhang aus, die Erstbeklagte hätte zu bedenken gehabt, daß kurze Störungen der Ventilation zu einer Hypoxie und sogar zum Tod der Klägerin führen konnten. Damit sei die Tatsache, daß sie die Klägerin nicht genau beobachtet und sich sogar für ein bis zwei Minuten in einer sehr kritischen Phase von ihr abgewandt habe, ein fataler Fehler, der einer Anästhesistin schlechthin nicht unterlaufen dürfe. Sie habe von ihr einzuhaltende medizinische Standards in einem besonders schwerwiegenden Maße vernachlässigt. Welche konkreten medizinischen Standards die Erstbeklagte mißachtet haben soll, hat das Berufungsgericht nicht näher dargelegt. Sie erschließen sich auch nicht aus der im Berufungsurteil in Bezug genommenen Begutachtung des vom Landgericht beauftragten Sachverständigen Prof. Dr. D. Soweit dieser in seinem Ergänzungsgutachten vom 13. November 1996 die Übernahme der Erstversorgung durch die Beklagte zu 1) als "problematische Prioritätssetzung" bezeichnet hat, mag zwar - unter Berücksichtigung der bei der Klägerin zuvor aufgetretenen Atmungsprobleme - ein Behandlungsfehler in Betracht zu ziehen sein. Die Annahme eines - aus medizinischer Sicht - eindeutigen Verstoßes gegen bewährte ärztliche Behandlungsregeln läßt sich daraus aber nicht herleiten, zumal weder der Gutachter noch das Berufungsgericht eine statt dessen gebotene Handlungsalternative aufzeigen. Wie die Drittbeklagte in ihrer Berufungsbegründung unter Beweisantritt vorgetragen hat, gab es für die Erstbeklagte in dem Zeitraum, in dem diese mit der Untersuchung des Neugeborenen befaßt war, keinen unmittelbaren zusätzlichen Handlungsbedarf. Mit dieser Behauptung hat sich das Berufungsgericht verfahrensfehlerhaft nicht auseinandergesetzt. Es hätte zumindest, wenn es bei der Bewertung des angenommenen Behandlungsfehlers die Erstversorgung des Neugeborenen ausschlaggebend zum Nachteil der Beklagten berücksichtigen wollte, dem zu diesem Punkt von der Drittbeklagten gestellten Antrag entsprechen müssen, den Sachverständigen Prof. Dr. D. zur (weiteren) Erläuterung seines schriftlichen Gutachtens zu laden. Hierzu bestand um so mehr Anlaß, als die bisherige medizinische Beurteilung des Sachverständigen erkennbar nicht geeignet war, den Vorwurf eines groben Behandlungsfehlers zu stützen. Von dessen Einschätzung durfte das Berufungsgericht mangels Ausweisung entsprechender eigener Sachkunde nicht abweichen.

4. Anhand der bisher getroffenen Feststellungen läßt sich auch nicht beurteilen, ob eine Haftung der Beklagten aus anderen Gründen gerechtfertigt ist. So ist nicht festgestellt, ob die der Erstbeklagten vom Berufungsgericht angelastete unzureichende Beobachtung der Klägerin innerhalb der Zeitspanne zwischen der Einleitung der Narkose und der Entbindung für die gesundheitliche Schädigung (mit) ursächlich war. Mit Recht weist die Revision darauf hin, daß Feststellungen dazu fehlen, wann und auf welche Weise die Erstbeklagte die beginnende Hypoxie in ihrem frühen Anfangsstadium (spätestens) hätte wahrnehmen können. Ob die Erstbeklagte vor dem Eintreffen des herbeigerufenen Notfalldienstes die gräuliche Hautverfärbung und die Weitung der Pupillen sowie die Zyanose bemerken konnte, hat das Berufungsgericht ausdrücklich offengelassen. Es hat auch nicht festgestellt, welche Maßnahmen der Notdienst ergriffen hätte, wenn er früher alarmiert worden wäre. Ob eine Herzmassage zu einem früheren Zeitpunkt indiziert gewesen wäre, müßte gegebenenfalls aufgeklärt werden. Die Drittbeklagte hat dies bestritten und auch dazu die Anhörung des Sachverständigen Prof. Dr. D. beantragt.

III. Nach alledem konnte das Berufungsurteil keinen Bestand haben. Es war deshalb aufzuheben und die Sache zur weiteren Sachaufklärung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen."