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Kategorie: Strafrecht

Zur Anrechnung von verfahrensfremder Untersuchungshaft

Freiheitsstrafe, U-Haft, Anrechnung, Jugendstrafe, Bewährung, Untersuchungshaft, Vergewaltigung


Pressemitteilung des BVerfG vom 18.01.2000, Nr. 7/2000
Beschluss vom 15.12.1999, Az. 2 BvR 1447/99

Zur Anrechnung von verfahrensfremder Untersuchungshaft


Die 2. Kammer des Zweiten Senats des BVerfG hat in einem Verfassungsbeschwerde (Vb)-Verfahren zwei gerichtliche Entscheidungen des Amtsgerichts Speyer und des Landgerichts Frankenthal wegen Verletzung des Freiheitsgrundrechts (Art. 2 Abs. 2 GG) in Verbindung mit dem Gleichbehandlungsgrundsatz (Art. 3 Abs. 1 GG) aufgehoben. Das Amtsgericht hatte entschieden, daß die vom Beschwerdeführer (Bf) erlittene Untersuchungshaft wegen eines Tatvorwurfs, von dem er letztlich freigesprochen wurde, nicht auf eine in einem anderen Verfahren gegen ihn verhängte Freiheitsstrafe angerechnet wird. Das Landgericht hat diese Entscheidung bestätigt. Die Kammer hat die Sache zur erneuten Entscheidung an das Amtsgericht Speyer zurückverwiesen.

I.
Der Bf wurde als Heranwachsender im Dezember 1998 wegen Körperverletzung zu einer Jugendstrafe von einem Jahr ohne Bewährung verurteilt, die er ab Februar 1999 verbüßte. Im August 1999 wurde der Rest dieser Jugendstrafe zur Bewährung ausgesetzt.

Gegen den Bf lief noch ein weiteres Strafverfahren:

U.a. wegen des Tatvorwurfs der Vergewaltigung (Tatzeitpunkt: März/April 1998) wurde der Bf von Juni 1998 bis Februar 1999 in Untersuchungshaft genommen. Das Amtsgericht Ludwigsburg verurteilte ihn wegen dieses Vorwurfs zu einer weiteren Jugendstrafe von einem Jahr und sechs Monaten ohne Bewährung. Auf seine Berufung sprach das Landgericht Frankenthal den Bf frei. Mit Beschluß vom Juni 1999 lehnte es das Amtsgericht Speyer ab, die Untersuchungshaft auf die im zeitlich früheren Verfahren wegen des Vorwurfs der Körperverletzung verhängte Jugendstrafe anzurechnen. § 51 Abs. 1 Satz 1 StGB sei weder unmittelbar noch entsprechend anwendbar. Nach dieser Vorschrift, der im Jugendstrafrecht § 52 a Jugendgerichtsgesetz (JGG; Wortlaut der Normen siehe Anlage) entspricht, ist Untersuchungshaft auf eine Freiheitsstrafe anzurechnen, wenn ein Verurteilter diese Untersuchungshaft aus Anlaß einer Tat, die Gegenstand des Strafverfahrens war, erlitten hat. Nach Ansicht des Amtsgerichts Speyer war die Norm im konkreten Fall nicht anwendbar, da es sich um zwei verschiedene Strafverfahren gehandelt habe. Es bestehe auch kein sachlicher Zusammenhang zwischen den beiden Verfahren. Auf die sofortige Beschwerde des Bf lehnte auch das Landgericht Frankenthal die Anrechnung der Untersuchungshaft ab. Ein Zusammenhang, der nach § 52 a JGG Anlaß zur Anrechnung geben könne, sei auch nicht dadurch begründet, daß beide Taten gesamtstrafenfähig oder nach Jugendstrafrecht einheitsstrafenfähig gewesen wären, wenn der Bf in beiden Fällen für schuldig befunden worden wäre. Hiergegen erhob der Bf Vb und rügte einen Verstoß gegen die Grundrechte aus Art. 2 Abs. 2 und Art. 3 Abs. 1 GG.

II.
Die Vb ist begründet.

1. Entscheidungen über die Anrechnung von Untersuchungshaft auf Freiheitsstrafen betreffen den Umfang der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe und berühren damit grundsätzlich die durch Art. 2 Abs. 2 GG verfassungsrechtlich gewährleistete Freiheit der Person. Bei der Auslegung und Anwendung des § 51 Abs. 1 StGB und des im Jugendstrafrecht an dessen Stelle tretenden § 52 a JGG ist daher die Bedeutung des Freiheitsgrundrechts als objektive Wertentscheidung des Verfassungsgebers zugrundezulegen. Es ist verfassungsrechtlich geboten, § 51 Abs. 1 StGB und auch § 52 a Satz 1 JGG so auszulegen, daß eine Anrechnung grundsätzlich zu erfolgen hat, wenn zwischen der die Untersuchungshaft auslösenden Tat und der Tat, die der Verurteilung zugrundeliegt, ein funktionaler Zusammenhang oder sachlicher Bezug besteht. Mit Beschlüssen vom 28. September und 7. November 1998 hatte das BVerfG daher Entscheidungen für verfassungswidrig erklärt, in denen die Verfahren, für die Untersuchungshaft verbüßt worden war, wegen ihrer geringfügigen Bedeutung im Hinblick auf das mit einer Verurteilung einhergehende Verfahren eingestellt worden sind (gemäß § 154 Abs. 2 StPO), eine Anrechnung aber unterblieben ist.

2. Die angefochtenen Entscheidungen von Amtsgericht und Landgericht berücksichtigen nicht hinreichend, daß zwischen dem Verfahren, in dem Untersuchungshaft verbüßt worden ist, und der zur Verurteilung des Bf führenden Tat ein enger sachlicher Bezug bestanden hat. Dieser Zusammenhang darf mit Blick auf das Freiheitsgrundrecht nicht außer Acht gelassen werden. Angenommen, der Bf wäre in der Berufungsinstanz vom Landgericht nicht vom Tatvorwurf der Vergewaltigung u.a. freigesprochen worden, hätte dieses Gericht die rechtskräftige Verurteilung vom Dezember 1998 (Vorwurf der Körperverletzung) einbeziehen müssen und eine neue, einheitliche Jugendstrafe verhängen müssen (§ 31 Abs. 2 JGG). Unzweifelhaft wäre durch diese Verhängung einer einheitlichen Jugendstrafe für die in unterschiedlichen Verfahren verfolgten Straftaten ein Verfahrenszusammenhang begründet worden, der eine Anrechnung der Untersuchungshaft nach § 52 a Satz 1 JGG nach sich gezogen hätte. Nichts anderes kann gelten, wenn ein Angeklagter freigesprochen wird. Es liegt auf der Hand, daß ein freigesprochener Jugendlicher oder Heranwachsender nicht schlechter als im Falle seiner Verurteilung gestellt sein darf. Außerdem entsteht der für eine Anrechnung nach § 52 a Satz 1 JGG erforderliche Zusammenhang nicht erst dann, wenn es tatsächlich zur Verhängung einer einheitlichen Strafe kommt. Die Notwendigkeit, unter Vorrang des Erziehungsgedankens im Jugendstrafrecht die Rechtsfolgen auch bei mehreren Straftaten eines Jugendlichen nach Art und Umfang auf das zu begrenzen, was zur erzieherischen Einwirkung unerläßlich ist, führt von vornherein zu einer besonderen Verknüpfung der in unterschiedlichen Verfahren verfolgten Straftaten. Dies muß bei Anwendung und Auslegung des § 52 a Satz 1 JGG berücksichtigt werden.

Anlage zur Pressemitteilung Nr. 7/2000 vom 18. Januar 2000


§ 52 a JGG (Jugendgerichtsgesetz) Anrechnung von Untersuchungshaft bei Jugendstrafe
(1) Hat der Angeklagte aus Anlaß einer Tat, die Gegenstand des Verfahrens ist oder gewesen ist, Untersuchungshaft oder eine andere Freiheitsentziehung erlitten, so wird sie auf die Jugendstrafe angerechnet. (...)

§ 51 StGB (Strafgesetzbuch) Anrechnung
(1) Hat der Verurteilte aus Anlaß einer Tat, die Gegenstand des Verfahrens ist oder gewesen ist, Untersuchungshaft oder eine andere Freiheitsentziehung erlitten, so wird sie auf zeitige Freiheitsstrafe und auf Geldstrafe angerechnet. (...)