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Kategorie: Zivilrecht

Unzulässige gerichtliche Vorlage zur Deliktshaftung Minderjähriger

Minderjährige, Fahrerlaubnis, Straßenverkehr, Moped, Grundrecht, Unfall, fahrlässig, Opfer, Schutz, Schadensersatz


Pressemitteilung des BVerfG vom 25.08.1998, Nr. 92/1998
Beschluss vom 13.08.1998, Az. 1 BvL 25/96

Unzulässige gerichtliche Vorlage zur Deliktshaftung Minderjähriger

Die 1. Kammer des Ersten Senats des BVerfG hat eine Richtervorlage zur Deliktshaftung Jugendlicher (§ 828 Abs. 2 BGB) für unzulässig erklärt, weil es sich bei der vorgelegten Norm um vorkonstitutionelles Recht handelt.

I.
Der damals 16jährige Beklagte des Ausgangsverfahrens fuhr ohne Fahrerlaubnis auf einem Moped. Seine 13jährige Freundin nahm er auf dem Soziussitz mit. Eine Haftpflichtversicherung bestand nicht. Es kam zu einem von dem Beklagten mitverursachten Verkehrsunfall, bei dem die Freundin schwer verletzt wurde. Der Krankenversicherungsträger der Verletzten nahm den Beklagten auf Schadensersatz in Anspruch und erhob Klage vor dem Landgericht Dessau (LG). Das Gericht legte dem BVerfG gemäß Art. 100 Abs. 1 GG die Frage vor, ob § 828 Abs. 2 BGB auch dann mit dem GG vereinbar ist, wenn ein fahrlässiges Verhalten eines Kindes oder Jugendlichen, welches eine typische Jugendverfehlung darstellt, zu einer existenzvernichtenden Haftung führen würde und die Befriedigung des Opfers von dritter Seite gewährleistet ist.

§ 828 Abs. 2 S. 1 BGB
"Wer das siebente, aber nicht das achtzehnte Lebensjahr vollendet hat, ist für einen Schaden, den er einem anderen zufügt, nicht verantwortlich, wenn er bei der Begehung der schädigenden Handlung nicht die zur Erkenntnis der Verantwortlichkeit erforderliche Einsicht hat."


Das LG vertritt die Auffassung, daß die Vorschrift mit dem GG unvereinbar ist. Bei Großschäden führe die unbegrenzte Haftung von Minderjährigen dazu, daß sie häufig zu lebenslangen Zahlungen mit einer Pfändung jeden Einkommens verpflichtet seien, das über der Pfändungsgrenze liege. Eine normale Lebensführung bleibe ihnen versagt. Die dadurch hervorgerufene Perspektivlosigkeit könne zu Zerstörung oder erheblichen Beeinträchtigung der Persönlichkeit und kriminellen Fehlentwicklungen führen.

II.
Die 1. Kammer des Ersten Senats hat entschieden, daß die Vorlage unzulässig ist.

1. Der Normenkontrolle des BVerfG im Verfahren des Art. 100 Abs. 1 GG unterliegen Gesetze dann nicht, wenn sie vor dem Inkrafttreten des GG als "vorkonstitutionelles" Recht verkündet worden sind. Das ist für § 828 Abs. 2 BGB der Fall.

Es gilt vorliegend auch nicht die Ausnahme, daß der Gesetzgeber das vorkonstitutionelle Recht "in seinen Willen aufgenommen" hat. § 828 Abs. 2 BGB ist durch keinen Gesetzgebungsakt erkennbar bestätigt worden. Das vorliegende Gericht hat selbst ausgeführt, daß der Titel über unerlaubte Handlungen im BGB seit 96 Jahren nahezu unverändert geblieben ist. Der nachkonstitutionelle Gesetzgeber hat sich nur ganz allgemein mit einigen Folgefragen der deliktischen Haftung beschäftigt. Darin kann allenfalls eine Bestätigung des allgemeinen Prinzips der verschuldensabhängigen Deliktshaftung, nicht aber eine spezielle Befassung mit der Minderjährigenhaftung gesehen werden. Mit dieser hat sich der Gesetzgeber seit Inkrafttreten des GG inhaltlich nicht befaßt. Der Bundestag hat weder Änderungen am Text der Vorschrift vorgenommen noch Gesetzesinitiativen zur Änderung der Norm abgelehnt.

Auch das Schweigen des Gesetzgebers zur bisherigen Rechtsprechung der Zivilgerichte oder zu Reformüberlegungen kann nicht in eine Bestätigung der bisherigen Gesetzeslage umgedeutet werden. Die strenge Haftung nach § 828 Abs. 2 BGB ist zwar außerhalb des parlamentarischen Gesetzgebungsverfahrens immer wieder kritisiert worden. Es mangelt auch nicht an Reformvorschlägen, die von einer Änderung der Altersgrenzen und einer stärkeren Haftung der Erziehungsberechtigten über eine Reduktion der Kindeshaftung nach Billigkeitsgesichtspunkten bis hin zur Einführung einer Pflichtversicherung für Kinder reichen. Diese Überlegungen sind aber bislang nicht in den parlamentarischen Prozeß vorgedrungen.

2. Die Kammer führt aus, daß die Richtervorlage darüber hinaus auch nicht den gesetzlichen Begründungsanforderungen genügt. Das LG hätte bei der verfassungsrechtlichen Prüfung insbesondere die Möglichkeit eines Erlasses durch den Krankenversicherungsträger nach § 76 Abs. 2 Nr. 3 SGB IV in seine Erwägungen einbeziehen müssen. Denn wenn dem Beklagten ein Anspruch auf Erlaß der Forderung zustünde, würde sich die Frage der Verfassungsmäßigkeit des § 828 Abs. 2 BGB in einem anderen Licht darstellen.

III.
Beim BVerfG sind damit keine weiteren Richtervorlagen zu § 828 Abs. 2 BGB mehr anhängig. Die Vorlage des OLG Celle (1 BvL 15/89) hat sich durch einen Vergleich im Ausgangsverfahren erledigt.