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Kategorie: Ehe- und Familienrecht

Kein Verstoß gegen das Kindeswohl und das Elternrecht

Vater, Mutter, minderjährige Kinder, Kindeswohl, Elternrecht, Kindesentführung, Rückführung, Aufenthaltsort, Zuständigkeit, Sorgerecht


Pressemitteilung des BVerfG vom 25.11.1998, Nr. 131/1998
Beschluss vom 29.10.1998, Az. 2 BvR 1206/98

Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde im Fall der "gegenläufigen Kindesentführung"

Der Zweite Senat des BVerfG hat auf die Verfassungsbeschwerden eines Vaters und seiner beiden minderjährigen Kinder einen Beschluß des Oberlandesgerichts Celle (OLG) wegen Verstoßes gegen das Kindeswohl und das Elternrecht aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das OLG zurückverwiesen. Mit dem Beschluß hatte das OLG angeordnet, daß der Vater die Kinder an die in Frankreich aufhältliche Mutter zurückzugeben habe.

I.
Die Verfassungsbeschwerden betrafen ein Verfahren nach dem Haager Übereinkommen vom 25. Oktober 1980 über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung (HKiEntÜ; die maßgeblichen Vorschriften sind in der Anlage beigefügt).

Bei Kindesentführungen in einen anderen Staat erlangt der entführende Elternteil nicht selten einen faktischen Vorteil, weil eine einstweilige Rückführung der Kinder an ihren ursprünglichen Aufenthaltsort auf Hindernisse in der internationalen Zusammenarbeit trifft und die internationale Zuständigkeit für eine Sorgerechtsentscheidung sich nach dem "gewöhnlichen Aufenthalt" des Kindes richtet. Das HKiEntÜ erleichtert deshalb die Zusammenarbeit unter den Vertragsstaaten und fordert eine sofortige Rückgabe des Kindes. Hiervon kann nur ausnahmsweise abgesehen werden (u.a. Art. 13 HKiEntÜ).

Der Verfassungsbeschwerde liegen zwei gegenläufige Entführungen zweier 1990 und 1994 geborener Kinder zugrunde. Die Kinder sind zunächst im Juli 1997 durch die Mutter von Deutschland nach Frankreich entführt und neun Monate später durch den Vater von Frankreich nach Deutschland gewaltsam zurückgebracht worden.

Der Vater hat nach der Entführung der Kinder durch die Mutter in zwei Instanzen erfolglos versucht, die Kinder mit Hilfe der zuständigen französischen Gerichte zurückzuerhalten. Dieses in Frankreich anhängige Verfahren ist noch nicht rechtskräftig entschieden.

In dem ebenfalls noch nicht abgeschlossenen Scheidungsverfahren hat ein französisches Gericht auf Antrag der Mutter im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes entschieden, daß beiden Eltern die elterliche Sorge gemeinsam zustehe und die Kinder ihren Wohnsitz bei der Mutter hätten. Der Vater hat gegen diese vorläufige Sorgerechtsentscheidung Rechtsmittel eingelegt; hierüber ist ebenfalls noch nicht entschieden.

Nach der Entführung der Kinder durch den Vater beschloß das OLG am 9. Juli 1998 auf die Beschwerde der Mutter, daß ihr die Kinder zurückzugeben seien.

Hiergegen erhoben die Kinder und der Vater Verfassungsbeschwerde. Dem weiteren Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung gab die 3. Kammer des Zweiten Senats des BVerfG am 16. Juli 1998 statt und ordnete an, daß die Kinder vorläufig nicht gegen den Willen des Vaters an die Mutter herausgegeben werden dürfen. Diese zunächst bis Ende Juli 1998 befristete einstweilige Anordnung wurde durch Beschluß vom 31. Juli 1998 bis zum 16. Januar 1999 verlängert (vgl. PM vom 31. Juli 1998 Nr. 88/98).

II.
Die angegriffene Entscheidung verletzt die Kinder in ihrem Grundrecht aus Art. 6 Abs. 2 S. 2 i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG und in ihrem Grundrecht aus Art. 103 Abs. 1 GG (Anspruch auf rechtliches Gehör). Der Vater ist in seinem Grundrecht aus Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG (Elternrecht) verletzt.

Der Senat betont, daß es zwar verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist, die Ausnahmeklauseln der Art. 13 und Art. 20 HKiEntÜ restriktiv auszulegen. In dem hier vorliegenden Sonderfall gegenläufiger Rückführungsanträge war jedoch eine nähere Prüfung des Kindeswohls anhand von Art. 13 HKiEntÜ verfassungsrechtlich geboten.

Zur Begründung heißt es u.a.:

Das HKiEntÜ enthält die Vermutung, daß eine sofortige Rückführung an den bisherigen Aufenthaltsort dem Kindeswohl grundsätzlich am besten entspricht. Die Kontinuität der Lebensbedingungen des Kindes bleibt dadurch erhalten. Weiterhin dürfte die Rückführungsanordnung, die den entführenden Elternteil zur Rückgabe des Kindes verpflichtet, eine generalpräventive Wirkung entfalten.

Die Ausnahmeklauseln in Art. 13 und Art. 20 HKiEntÜ tragen der Tatsache Rechnung, daß ein Zurückbringen des Kindes an seinen letzten gewöhnlichen Aufenthaltsort im Einzelfall mit dem Kindeswohl unvereinbar sein kann. Die Rückführung eines Kindes darf insbesondere unterbleiben, wenn die Rückgabe das Kind in eine unzumutbare Lage brächte oder das Kind sich der Rückgabe in einer angesichts seines Alters und seiner Reife beachtlichen Weise widersetzt. Nur ungewöhnlich schwerwiegende Beeinträchtigungen des Kindeswohls, die sich als besonders erheblich, konkret und aktuell darstellen, rechtfertigen also die Anwendung dieser Ausnahmeklausel und stehen damit einer Rückführung entgegen.

Härten für den entführenden Elternteil begründen in der Regel keinen solchen Nachteil. Die mit einer Trennung des Kindes von dem entführenden Elternteil verbundenen Beeinträchtigungen des Kindeswohls können meist dadurch vermieden werden, daß der entführende Elternteil gemeinsam mit dem Kind zurückkehrt. Ist die Rückkehr für diesen Elternteil mit staatlichen Sanktionen verbunden, so sind diese als Folge der rechtswidrigen Entführung hinzunehmen.

Die Entscheidung des OLG ist mit dem GG unvereinbar, weil im Sonderfall der gegenläufigen Rückführungsanträge eine nähere Prüfung des Kindeswohls verfassungsrechtlich geboten war (a) und das OLG verfahrensrechtliche Anforderungen nicht eingehalten hat (b).

a) Die Entscheidung des OLG, die Voraussetzungen des Art. 13 HKiEntÜ nicht näher zu prüfen, widerspricht dem Schutzauftrag des Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG und dem Grundrecht der Kinder aus Art. 2 Abs. 1 GG. Im Zeitpunkt der Entscheidung des OLG waren gegenläufige Rückführungsanträge bei deutschen und französischen Gerichten anhängig. Damit ist nicht ausgeschlossen, daß im Anschluß an die Anordnung des OLG, die Kinder nach Frankreich zurückzubringen, das französische Gericht eine erneute Rückführung nach Deutschland verfügt. Der Zweck des Haager Kindesentführungsübereinkommens, den Aufenthalt des Kindes bis zur Sorgerechtsentscheidung zu verstetigen, die Folgen einer rechtswidrigen Entführung aufzuheben und das Kind an den Ort der zukünftigen Sorgerechtsentscheidung zurückzubringen, würde dann verfehlt. Ein solches Hin- und Rückführen der Kinder widerspräche dem Kindeswohl und wäre für sie unzumutbar, wenn das Gericht nicht besondere Anhaltspunkte feststellt, die eine Rückführung trotz der Gefahr eines weiteren Ortswechsels rechtfertigen.

Diese besonderen Umstände hat das OLG nicht hinreichend gewürdigt.

b) Aus der verfassungsrechtlichen Verankerung des Kindeswohls in Verbindung mit dem Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) ergibt sich eine Pflicht, das Kindeswohl verfahrensrechtlich dadurch zu sichern, daß den Kindern bereits im familiengerichtlichen Verfahren ein Pfleger zur Wahrung ihrer Interessen zur Seite gestellt wird.

Auch im Rahmen einer Rückführungsentscheidung nach dem HKiEntÜ muß eine eigenständige Wahrnehmung der Kindesbelange sichergestellt sein. Diese Aufgabe obliegt grundsätzlich den Eltern. Art. 6 Abs. 1 i.V.m. Art. 6 Abs. 2 GG schützt die Familie vor allem als Lebens- und Erziehungsgemeinschaft, in der die Eltern ihr dienendes Grundrecht zum Wohle des Kindes wahrzunehmen haben. Soweit die Eltern ihren Kindern diese Voraussetzungen nicht bieten können, ist bei der Zuweisung der Elternverantwortlichkeit das Elternrecht vor allem als Elternpflicht (Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG) zu verstehen, das staatliche "Wächteramt" (Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG) als Verpflichtung zu kindeswohlgerechtem Handeln zu entfalten und auf die Kindesgrundrechte abzustimmen.

Haben die Eltern durch die rechtswidrige Entführung ihrer Kinder jeweils zu erkennen gegeben, daß sie vornehmlich ihre eigenen Interessen durchsetzen wollen, so können ihre Interessen in einem Konflikt zu denen ihrer Kinder geraten. In diesem Fall muß den Kindern die Möglichkeit eingeräumt werden, ihr eigenes Interesse im Verfahren geltend zu machen. Dieses geschieht bei Kindern, deren Alter und Reife eine eigene Wahrnehmung ihrer Rechte nicht erlaubt, durch einen Verfahrenspfleger. Ein solcher Pfleger wurde für die Kinder im Verfahren vor dem OLG jedoch nicht bestellt.

c) Da die vom OLG getroffene Entscheidung nicht mit dem Wohl der Kinder vereinbar ist, verletzt sie zugleich das Elternrecht des Vaters aus Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG.


Anlage zur Pressemitteilung Nr. 131/98 vom 25. November 1998

Haager Kindesentführungsübereinkommen (HKiEntÜ)

Art. 3
Das Verbringen oder Zurückhalten eines Kindes gilt als widerrechtlich, wenn
a) dadurch das Sorgerecht verletzt wird, das einer Person, Behörde oder sonstigen Stelle allein oder gemeinsam nach dem Recht des Staates zusteht, in dem das Kind unmittelbar vor dem Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, und
b) dieses Recht im Zeitpunkt des Verbringens oder Zurückhaltens allein oder gemeinsam tatsächlich ausgeübt wurde oder ausgeübt worden wäre, falls das Verbringen oder Zurückhalten nicht stattgefunden hätte.
Das unter Buchstabe a) genannte Sorgerecht kann insbesondere kraft Gesetzes, aufgrund einer gerichtlichen oder behördlichen Entscheidung oder aufgrund einer nach dem Recht des betreffenden Staates wirksamen Vereinbarung bestehen.


Art. 12
Ist ein Kind im Sinne des Artikels 3 widerrechtlich verbracht oder zurückgehalten worden und ist bei Eingang des Antrags bei dem Gericht oder der Verwaltungsbehörde des Vertragsstaats, in dem sich das Kind befindet, eine Frist von weniger als einem Jahr seit dem Verbringen oder Zurückhalten verstrichen, so ordnet das zuständige Gericht oder die zuständige Verwaltungsbehörde die sofortige Rückgabe des Kindes an.
Ist der Antrag erst nach Ablauf der in Absatz 1 bezeichneten Jahresfrist eingegangen, so ordnet das Gericht oder die Verwaltungsbehörde die Rückgabe des Kindes ebenfalls an, sofern nicht erwiesen ist, daß das Kind sich in seine neue Umgebung eingelebt hat.
Hat das Gericht oder die Verwaltungsbehörde des ersuchten Staates Grund zu der Annahme, daß das Kind in einen anderen Staat verbracht worden ist, so kann das Verfahren ausgesetzt oder der Antrag auf Rückgabe des Kindes abgelehnt werden.


Art. 13
Ungeachtet des Artikels 12 ist das Gericht oder die Verwaltungsbehörde des ersuchten Staates nicht verpflichtet, die Rückgabe des Kindes anzuordnen, wenn die Person, Behörde oder sonstige Stelle, die sich der Rückgabe des Kindes widersetzt, nachweist,
a) daß die Person, Behörde oder sonstige Stelle, der die Sorge für die Person des Kindes zustand, das Sorgerecht zur Zeit des Verbringens oder Zurückhaltens tatsächlich nicht ausgeübt, dem Verbringen oder Zurückhalten zugestimmt oder dieses nachträglich genehmigt hat oder
b) daß die Rückgabe mit der schwerwiegenden Gefahr eines körperlichen oder seelischen Schadens für das Kind verbunden ist oder das Kind auf andere Weise in eine unzumutbare Lage bringt.
Das Gericht oder die Verwaltungsbehörde kann es ferner ablehnen, die Rückgabe des Kindes anzuordnen, wenn festgestellt wird, daß sich das Kind der Rückgabe widersetzt und daß es ein Alter und eine Reife erreicht hat, angesichts deren es angebracht erscheint, seine Meinung zu berücksichtigen.
Bei Würdigung der in diesem Artikel genannten Umstände hat das Gericht oder die Verwaltungsbehörde die Auskünfte über die soziale Lage des Kindes zu berücksichtigen, die von der zentralen Behörde oder einer anderen zuständigen Behörde des Staates des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes erteilt worden sind.