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Kategorie: Mietrecht

Aufhebung eines mietrechtlichen Räumungsurteils

Mietvertrag, Räumung, Urteil, Klage, Vermieter, Willkür, Verbot, Mieter, Räumungsurteil, Eigenbedarf


Pressemitteilung des BVerfG vom 02.08.1999, Nr. 80/1999
Beschluss vom 07.07.1999, Az. 1 BvR 346/99

Aufhebung eines mietrechtlichen Räumungsurteils wegen Verstoßes gegen Art. 3 Abs. 1 GG

Die 1. Kammer des Ersten Senats des BVerfG hat auf die Verfassungsbeschwerde des Mieters ein mietrechtliches Räumungsurteil des Landgerichts München I (LG) wegen Verstoßes gegen das Willkürverbot (Art. 3 Abs. 1 GG) aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das LG zurückverwiesen.

I.
Der Beschwerdeführer ist Mieter einer Doppelhaushälfte. Grundlage des auf Räumung wegen Eigenbedarfs der Vermieterin gerichteten Mietstreits war ein 1992 mit der Rechtsvorgängerin der Klägerin, einer damals neunzigjährigen und inzwischen verstorbenen Frau, geschlossener Mietvertrag.

In diesem war der vorformulierte Text "Das Mietverhältnis beginnt am:" handschriftlich wie folgt ergänzt worden: "01.01.1993 Mietverhältnis auf 10 Jahre". Gleichzeitig war unter Streichung des restlichen Textes zur Mietdauer die Spalte, nach der das Mietverhältnis auf unbestimmte Zeit läuft, mit dem handschriftlichen Zusatz angekreuzt worden: "Lt. Aussprache mit Frau K. vom 07.11.1992 darf der Mieter das Anwesen mieten, solange es ihm gefällt und er für Ordnung sorgt". 1997 wurde dem Beschwerdeführer das Mietverhältnis wegen Eigenbedarfs gekündigt. Er wandte dagegen ein, daß ein befristetes Mietverhältnis auf zehn Jahre vereinbart worden sei.

Das Amtsgericht wies die Räumungsklage ab, das LG gab ihr auf die Berufung des Vermieters statt, da zwischen dem Beschwerdeführer und der Vorvermieterin kein befristetes Mietverhältnis vereinbart worden sei. Diese Entscheidung begründete das Landgericht damit, daß nach den Aussagen der vom Amtsgericht vernommenen Zeugen bei der Ausfüllung des Vertrages zwar über ein Mietverhältnis von zehn Jahren gesprochen worden sein könnte, dies sei aber angesichts der im Vertrag enthaltenen Widersprüche zur Laufzeit kein ausreichender Beweis. Den Angaben der Zeugen komme nur eingeschränkte Bedeutung zu, weil die Vorvermieterin den Vertrag erst nach etwa zwei Wochen unterschrieben habe. Es sei wegen des hohen Alters der Vorvermieterin durchaus denkbar, daß sie beim späteren Durchlesen des Vertrages den handschriftlichen Passus ("... Mietverhältnis auf 10 Jahre") nur als eine auf ihre eigene Person bezogene Absichtserklärung gewertet habe. Aufgrund des Alters sei ein Bindungswille hinsichtlich dieses Passus auszuschließen.

Hiergegen erhob der Beschwerdeführer Verfassungsbeschwerde.

II.
Die 1. Kammer des Ersten Senats hat ihm recht gegeben.

Der Beschluß des LG ist mit Art. 3 Abs. 1 GG in seiner Bedeutung als Willkürverbot nicht vereinbar.

Nach der Rechtsprechung des BVerfG ist ein Richterspruch willkürlich, wenn er unter keinem denkbaren rechtlichen Aspekt vertretbar ist und sich daher der Schluß aufdrängt, daß er auf sachfremden Erwägungen beruht.

Gemessen daran kann die angegriffene Entscheidung keinen Bestand haben. Die tragende Erwägung für die Annahme des LG, das streitige Mietverhältnis sei nicht auf bestimmte Zeit abgeschlossen worden, eine ordentliche Kündigung wegen Eigenbedarfs der Klägerin deshalb möglich, ist unter keinem Gesichtspunkt rechtlich vertretbar.

Verfassungsrechtlich zu beanstanden ist die Auffassung des LG, der Beschwerdeführer habe nicht davon ausgehen können, daß die Unterschriftsleistung der Vorvermieterin einen Bindungswillen bezüglich des handschriftlichen Teils des Mitvertrags umfaßt habe. Es ist nicht ersichtlich, weshalb der Beschwerdeführer bei der Vertragsunterzeichnung davon ausgehen mußte, daß seiner Vertragspartnerin aufgrund des hohen Alters die Fähigkeit gefehlt haben könnte, sich an das etwa zwei Wochen zuvor Besprochene zu erinnern. Ein allgemeiner Erfahrungssatz, daß neunzigjährige Personen sich nicht mehr an das erinnern können, was sie zu einem ungefähr zwei Wochen zurückliegenden Zeitpunkt über eine in Aussicht genommene Vereinbarung mit dem anderen Vertragsteil abgesprochen haben, besteht nicht. Erkennbare Umstände für eine Erinnerungslücke bei der Vorvermieterin hat das LG nicht angeführt. Es hat sich statt dessen auf bloße "Vorbehalte" gestützt, ohne diese in tatsächlicher Hinsicht zu untermauern. Im Vortrag der Parteien finden sie keine Grundlage. Auch die Akte des Ausgangsverfahrens enthält keine Anhaltspunkte dafür, daß die ursprüngliche Vermieterin die Einfügungen und die nach Zeugenaussagen vor dem Amtsgericht vorher getroffenen Absprachen nicht mehr hat gelten lassen wollen.

Das LG hat sich unter Berücksichtigung dieses verfassungsgerichtlichen Beschlusses erneut mit der Sache zu befassen.